Mein Nachbar
- katjadarssen
- 8. Dez. 2020
- 3 Min. Lesezeit
Irgendwann musste es ja mal passieren, dass der losrennt und sogar seine Wohnungstür offen lässt. Immerzu hat er ein Buch vor der Nase und nagt gleichzeitig an einem Apfel. Bestimmt läuft er noch einmal vor ein Auto. Der lebt, geht und steht wohl in seiner eigenen Welt. Das kann ganz schön gefährlich werden.
Aber für mich hat er schon ein paarmal aus seiner Welt aufgeschaut. Grüne Augen! Wie eine Katze. Auch seine leisen Bewegungen sind katzenartig. Wahrscheinlich braucht er wie diese Tiere eigentlich niemanden. Schade.
Dennoch würde ich gerne in das Seminar dieses Herrn Professor gehen. Gegangen sein! Die Zeiten sind ja nun definitiv leider vorbei. Dann begegnen wir uns eben hier, Professorchen.

Mit der Hand an seinem Türknauf halte ich inne. Wenn er noch nicht einmal seinen Schlüssel mitgenommen hat, dann ist es keine Hilfe, ihm die Tür zuzuziehen. Vielleicht steckt der Schlüssel von innen? Oder ist er gar zu Hause?
„Herr, ähm, Herr. Hallo, ich bin es, Ihre Nachbarin.“
Kein Mann. Kein Schlüssel. Hat er ihn doch mitgenommen? In seinen ewig an ihm baumelnden Rucksack geworfen? Ich kann ja mal auf dem Flurschrank nach dem Schlüssel sehen. Die zwei, drei Schritte in die Wohnung hinein wird er mir wohl verzeihen. Immerhin geschieht das aus reiner Hilfsbereitschaft. Er wird doch dann hoffentlich ein kleines Dankeschön seiner Nachbarin gegenüber übrig haben! Danke, Lächeln, Händeschütteln. Ein kleiner Plausch?
Ist das überhaupt ein Flur? Bücher. Überall. Bücher in einem großen Regal. Gestapelt auf dem Fußboden. Und sicher sind auch welche in den Kisten. Noch immer Umzugskisten? Aber er wohnt doch nun schon fast ein Jahr hier.
Bis heute hat er sich niemandem vorgestellt. Wir wohnen in unseren Aufgängen so dicht beieinander. Wenigstens in unserem Hof hätte er mal die Runde machen können.
Die Schlüssel liegen bestimmt auf den Kisten. Unter der Zeitung? Notizzettel, Geld, Schraubenzieher, Taschentücher, verklebte Bonbons. Igitt, Ameisen an einem Apfelgriebs. Kein Schlüssel. Zerknülltes Papier und ein Heft. Nein, lose Blätter sind es nur. Ich werde sie schnell aufheben.
Feine, lange Linien sind fast rhythmisch zu Buchstaben und Wörtern geformt. Es erinnert an eine Zeichnung. So ein Liederjan mit solch einer Schrift? Halte ich ein Kunstwerk in den Händen? Ach was, es wurde hier im Flur achtlos hingeworfen. Jetzt, wenn ich schon einmal hier bin, sprühe ich schnell noch Sagrotan auf die Ameisen, dann gehe ich. Die Blätter sollte ich vorher allerdings weglegen sonst verwischt noch die Tinte.
Was steht da eigentlich? Er folgte mir tatsächlich. Ich freute mich darüber. Falls dieses kleine Verb meine Anspannung auszudrücken vermag. Sofort bereitete ich den Tee. Er sah meinen bronzenen Aschenbecher. Er bat um eine Zigarette, ganz wie ich es erwartet hatte. Natürlich wusste er, dass es sich bei dem Aschenbecher um die Aztekenschale aus seinem Museum handelte. Nun wären wir quitt, dachte er. Doch ein wertvolles von Meisterhand gestohlenes Ding ist kein Vergleich zu einer Frau. Dass er ganz sicher dachte, dass das schon meine Rache war, bewies nur einmal mehr wie formatlos er war. Dachte er wirklich ich würde Manuela so einfach aufgeben?
Anerkennend nickte er von oben herab. Zu mir hinunter! Wir führten die Zigaretten zur Schale hin. Wir sagten kein Wort. Dass ich nicht mit ihm, dem Gott, sprach, leuchtete ihm wohl ein. Diese selbstverliebte Kreatur wäre nie darauf gekommen, über den Inhalt seiner Zigarette nachzudenken.
Jetzt hole ich erst einmal irgendetwas, um die Ameisen zu vertreiben. Ich werde meinen Nachbarn fragen, ob ich die Geschichte zu Ende lesen darf.
Hier muss die Küche sein.
Die Klinke ist gusseisern und schnörkellos. Sie kracht beim Herunterdrücken, aber sie gibt nicht nach. Ich rüttele, ziehe, stoße. Es kracht abermals.
Das darf doch nicht wahr sein. Nun ist es aus. Das Holz ist gesplittert; die Türklinke herausgefallen. Die Tür schaukelt hin und her. Sie kann nicht mehr eingeklinkt werden.
Warum hat die vorher so geklemmt? So ein zerstreuter Mann kocht wahrscheinlich nicht. Einfach zusammengeklebt mit der Zeit. Ich kann ihn mir wirklich nicht in einer Küche vorstellen; wie er Wasser, Kartoffeln oder gar Gemüse kocht. Noch nicht einmal ein Ei oder ein Steak sehe ich ihn braten.
Aber nun ist alles kaputt. Ich habe hier nichts mehr verloren. Vergiss die Ameisen und das Sagrotan. Das hier kann ich niemals erklären. Dabei hätte ich ihm so gerne so Vieles erklärt.
Mann, der Kerl macht wohl gar nichts. Der kennt die Welt wohl nur aus Büchern. Hier drinnen ist nichts. Keine Kaffeedose, keine Teepackung, kein Wasserkocher, kein Geschirrhandtuch, kein Salz.
Der Tisch hier drinnen ist aber schön. Groß und massiv. Einladend. Man möchte ihn mit üppigem Essen voll stellen und daran feiern. Nur eine Schale steht auf diesem Tisch. Schwer, dennoch anmutig. Golden oder bronzefarben, reich verziert. Wie aus einer anderen Zeit. So etwas habe ich noch nie gesehen. Auf gar keinen Fall in einer Küche! Warum stellt er dieses Medizinfläschchen dort hinein. Doch wenn das seine Medizin ist, warum steht die dann hinter einer so unbenutzten Tür? Was steht auf dem Flaschenetikett? Arsentoxonitrit?




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